Roman de la Rose: Zeiten im Umbruch

Roman de la Rose: Zeiten im Umbruch
Roman de la Rose: Zeiten im Umbruch
 
Zwischen 1230 und 1240 dürfte Guillaume de Lorris seinen Teil des »Rosenromans« abgeschlossen haben. In den von ihm stammenden 4056 paarweise gereimten Achtsilbern, dem Versmaß des höfischen Romans, berichtet er in der Ichform als Erzähler und Liebender zugleich, dass er im Alter von 20 Jahren einen schönen Traum hatte, den er nun in einem Roman erzählen möchte. Es sei der »Rosenroman«. Die Rose ist die geliebte Frau, die der Jüngling erlangen möchte. Auf dem Weg zu ihr durch eine herrliche Mailandschaft erblickt er einen Garten, den eine hohe, mit Zinnen bewehrte Mauer umgibt. Auf der Außenseite findet er bildliche, in Gold und Blau gehaltene Darstellungen der Zehnzahl der antihöfischen Laster: Hass, Bosheit, Gemeinheit, Habsucht, Geiz, Neid, Traurigkeit, Alter, Heuchelei und Armut. Mit einiger Mühe findet er den Eingang des Gartens, den ihm eine wunderschöne Frau, Müßigkeit, öffnet. Der Garten, der Vergnügen gehört, wurde von ihm auch mit großem Raffinement angelegt.
 
Psychische und sozial bedingte Verhaltenweisen sowie physiologische Bedingtheiten werden in diesem Text also zu Figuren mit spezifischem Äußeren, sie werden personifiziert - der Text verfährt damit allegorisch, das heißt er fordert zu einer Lektüre hinter den Bildern auf. Dem mittelalterlichen Denken ist grundsätzlich alles Symbol, Zeichen, das auf eine übernatürliche Wirklichkeit verweist. Der verstandesmäßig fassbaren Darstellung eines abstrakten Begriffs oder Vorgangs dient die Allegorie. Sie hebt das Individuelle ins Allgemeine, löst Zeitgebundenheit in überzeitlichen Zusammenhängen auf. Findet man die Allegorie in der antiken Rhetorik als Form des bildlichen Sprechens und ist sie theologisch eine Ebene der Textanalyse, die eine hinter dem offenkundigen Wortsinn liegende Dimension der Bibel erschließt, so wird sie lehrhaft und literarisch seit Prudentius (* 348, ✝ nach 405) in der Beschreibung des Kampfes zwischen den Tugenden und den Lastern verwendet, um damit dem Kampf zwischen Gut und Böse im Innern des einzelnen Menschen Allgemeingültigkeit zu verleihen. Die Bildhaftigkeit der Allegorie sollte vom 13. Jahrhundert an bis weit ins 15. hinein zum nahezu epochenspezifischen literarischen Ausdrucksmittel werden. Daran hat der »Rosenroman« entscheidenden, wenn nicht den entscheidendsten Anteil.
 
Der »Rosenroman« möchte eine Liebeskunst liefern. Dies genau ist die epochale Neuerung Guillaumes de Lorris: Er verfasste eine Minneallegorie, in der er die unterschiedlichsten weltlichen und geistlichen Traditionen der allegorischen Rede, die sich seit der Spätantike herausgebildet hatten, im Hinblick auf die Darstellung des Wesens der höfischen Liebe bündelte. Er hob die Forderung an den höfischen Helden, sich in Abenteuern zu bewähren, um sozial bestehen zu können, in einem fiktiven Traumgeschehen auf, in dem ein wunderschöner Garten die Stelle alter Kampfschauplätze einnimmt. Der Liebende wird daher nach der Begrüßung durch Müßigkeit zunächst mit den Besonderheiten der höfischen Bildung vertraut gemacht, bevor er in die Quelle schaut, in der Narziss den Tod fand. Für ihn ist sie jedoch nicht die Quelle des todgeweihten Selbstgenusses, sondern in Guillaumes de Lorris Umdeutung der antiken Fabel die der Liebeserkenntnis: Auf dem Grund der Quelle sind zwei herrliche Edelsteine, in denen sich der paradiesische Garten spiegelt - Symbol der Augen der Geliebten als Seelenspiegel, als Glücksverheißung, als Sitz des Liebesgottes, der von hier aus seine Pfeile auf den Geliebten abschoss. Am Ende des ersten Teils des Rosenromans ist der Liebende jedoch auf seinem Weg zu der Rose gescheitert. So kann Jean de Meung seinen zweiten Teil mit einer Beschwörung der Notwendigkeit, nie die Hoffnung zu verlieren, beginnen.
 
Aber dieser zweite, zwischen 1270 und 1280 entstandene Teil hat mit dem höfischen Geist des ersten nur noch wenig zu tun. Die soziale, politische und kulturelle Situation hat sich in den vierzig Jahren, die zwischen beiden Teilen liegen, erheblich verändert. Die Bettelorden mit ihrer Wertschätzung des Studiums hatten zunehmenden Einfluss auf die universitäre Bildung gewonnen, zugleich entstanden auch neue, ketzerische Bewegungen. Durch die ständig wachsende Bedeutung der Städte mit großbürgerlichen Kaufmannsschichten verloren die Höfe an Funktion und die Position des Adels wurde geschwächt. Ein neuer Realismus prägte die Zeit, der die auf Erfahrung beruhende Lösung bisher dogmatisch erklärter physikalischer Vorgänge ebenso wenig scheute wie die verstandesmäßige Lösung theologischer Fragen. So ist Jean de Meung auch weniger sensibler Dichter als souveräner, weitgebildeter Gelehrter, der in seinem 18 000 Verse umfassenden Teil eine Summe des zeitgenössischen Wissens liefert, zugleich eine Satire auf die höfische Welt sowie deutliche Kritik an weltlichen und geistlichen Hierarchien und an der Scholastik. Herausragende Beispiele für die veränderte Sicht Jeans de Meung waren seine sinnlich-realistische, auf die Renaissance vorausweisende Liebesauffassung sowie die frauenfeindlichen Abschnitte des Textes, in denen Frauen in schwer wiegender Weise verunglimpft werden. Beide Elemente waren zu Beginn des 15. Jahrhunderts Anlass für eine bedeutende literarische Kontroverse, den »Streit um den Rosenroman«, an dem sich auch französische Frühhumanisten beteiligten. Der Roman endet mit dem Pflücken der Rose und der lapidaren Aufhebung der Traumfiktion: Es wird Tag, und der Schlafende erwacht.
 
Der Rosenroman wurde »durch seinen enzyklopädischen Reichtum an Abschweifungen auf alle möglichen Gebiete die Schatzkammer. .., aus der sich die gebildeten Laien das lebendigste ihrer geistigen Entwicklung holten«, schrieb Johan Huizinga in seinem »Herbst des Mittelalters« und begründete damit zugleich die ungeheure gesellschaftliche und literarische Nachwirkung des Textes - gesellschaftlich, weil er zwei Jahrhunderte lang modellbildend für einen Zivilisationsprozess war, der der Frau eine zentrale Rolle bei der Ausbildung höfischer Verhaltensnormen zuwies und das allegorische Sprechen über einzelne Stufen der Liebe zur verbindlichen Kommunikationsform erhob; literarisch, weil der Roman mit Sprachmustern, Bildern und Zeitkritik in Frankreich noch von den Aufklärern im 18. Jahrhundert geschätzt wurde, und weil man ihn zum Beispiel in Italien seit dem 13. Jahrhundert oder in England und Spanien seit dem 14. Jahrhundert als Inspirationsquelle begriff und vielfältig nachahmte. Schließlich findet auch die Nutzung der Allegorie im weltlichen und geistlichen Theater des Mittelalters ohne den Einfluss des »Rosenromans« keine zureichende Erklärung.
 
Prof. Dr. Wolf-Dieter Lange
 
 
Der altfranzösische höfische Roman, herausgegeben von Erich Köhler. Darmstadt 1978.
 
Französische Literaturgeschichte, herausgegeben von Jürgen Grimm. Stuttgart u. a. 31994.
 Hausmann, Frank-Rutger: Französisches Mittelalter. Stuttgart u. a. 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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